Wenn im britischen Aylesbury alle dreißig Sekunden ein mit Milchkanistern beladener Rollcontainer die Fördertechnik verlässt und innerhalb kürzester Zeit seinen Platz im 9.000 Quadratmeter großen Kühlhaus finden muss, zeigt sich, wie präzise die innerbetriebliche Logistik bei Arla Foods heute abgestimmt ist. Das Werk zählt zu den größten Frischmilchmolkereien Europas. Mehr als 1,6 Milliarden Liter Milch werden hier jährlich verarbeitet, verpackt und verteilt. Ein derart eng getakteter Materialfluss lässt sich nur mit einer höchst zuverlässigen Transportrobotik bewältigen. Bereits seit 2014 setzt Arla auf ein fahrerloses Transportsystem (FTS) von ek robotics. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Hamburg zählt zu den erfahrensten Anbietern der Branche und entwickelt seit mehr als 60 Jahren maßgeschneiderte Automatisierungslösungen.
Neben der Fertigung der mobilen Roboter liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Softwareentwicklung, die als zentrale Einheit alle Transport- und Lagerprozesse koordiniert und auf die individuellen Anforderungen der Kunden abgestimmt wird. Bei Arla verantworten seit über einem Jahrzehnt 90 maßangefertigte Transportroboter zuverlässig die Aufgabe, Rollcontainer zwischen Produktion, Kühllager und Lkw-Verladung zu bewegen. Über 15 Milliarden Liter Milch und mehr als 44 Millionen Transportaufträge wurden in dieser Zeit ohne Personalaufwand und voll automatisiert mit einer Effizienz ausgeführt, die in der Lebensmittelindustrie entscheidend ist.
Wenn ERP an Grenzen stößt und das Leitsystem übernimmt
Nach zehn Jahren Dauerbetrieb ging Arla im Januar 2024 den nächsten Schritt: Die Steuerung der Intralogistik im Kühllager wurde vom bisherigen ERP (Enterprise Resource Planning) vollständig in das FTS-Leitsystem von ek robotics überführt. „Obwohl ein Leitsystem immer ein zentraler Bestandteil eines Fahrerlosen Transportsystems ist und Funktionen wie Verkehrssteuerung, Auftragsverteilung oder Ladestrategien übernimmt, war die Situation bei Arla besonders vielfältig“, erinnert sich Ronald Kretschmer, Chief Sales Officer bei ek robotics.
Die Steuerung des komplexen Materialflusses im Kühllager brachte das bestehende Warenmanagementsystem an seine Leistungsgrenzen. Um Kapazitätsengpässe zu vermeiden und die wachsende Prozesskomplexität zuverlässig abzubilden, wurde entschieden, auch die Lagerverwaltung in das Leitsystem von ek robotics zu integrieren. Damit trägt heute nicht mehr das ERP die operative Verantwortung über die einzelnen Transportprozesse, sondern das Leitsystem aus Hamburg. Für Arla bedeutet das eine spürbare Entlastung der Systemgrenzen: Das ERP kennt das Kühllager nur noch als „Blackbox“, alle inneren Abläufe, von der Einlagerung bis zur Lkw-Bereitstellung, werden vom Leitsystem übernommen.
„ERP-Systeme sind für Produktionsplanung und Stammdatenverwaltung optimiert, stoßen aber bei hochdynamischen Transportprozessen schnell an ihre Grenzen“, erläutert Julian Schwarzat, Team Lead System Development bei ek robotics. „Unser Transport-Manager ist genau für diese Aufgabe entwickelt: Er ist nicht nur für die Disposition und Lademanagement der Fahrzeuge verantwortlich, sondern auch für die gesamte Organisation der Blocklagerplätze sowie die Anbindung von Peripheriegeräten wie Toren, Aufzügen, Ladegeräten oder Scannern.
Auf diese Weise entsteht ein Gesamtsystem, das Transport- und Lagerlogik in einer einzigen Leitinstanz bündelt und Materialflüsse deutlich effizienter steuert.“ Ein weiterer Vorteil liegt in der modularen Architektur des Systems. Neue Funktionalitäten – etwa die Anbindung zusätzlicher Lagerbereiche oder die Integration weiterer Peripheriegeräte – können ohne Stillstand implementiert werden. Diese Flexibilität macht das Leitsystem nicht nur für Molkereien, sondern auch für Branchen wie Pharma- oder Getränkeindustrie interessant, wo ähnliche Anforderungen an Taktung, Kühlketten und Rückverfolgbarkeit bestehen.
Neue Milch im Sekundentakt
Über mehrere Fördertechniken verlassen die mit Milchkanistern beladenen Rollcontainer den Produktionsbereich in einem Takt zwischen 15 bis 30 Sekunden. Im Kühllager angekommen verteilen Roboterarme sie auf die Abhol-Positionen, von wo die Transportroboter übernehmen. Das Leitsystem weiß bereits hier, um welches der rund 80 unterschiedlichen Milchprodukte es sich handelt, welches Mindesthaltbarkeitsdatum vorliegt und wann es benötigt wird. Auf dieser Basis wird entschieden, ob die Milch direkt zu einem Lkw-Tor gebracht, an einem Pufferplatz zwischengelagert oder in einer Blocklagergasse positioniert wird. Dabei achtet die Software darauf, dass gleiche Sorten nicht ausschließlich in einem Block gelagert werden.
Andernfalls würden bei einem Auftrag zu viele Fahrzeuge denselben Bereich ansteuern, mit Staus als Folge. Stattdessen verteilt das System die Produkte intelligent auf verschiedene Segmente. Während Spitzenzeiten erlaubt das Leitsystem eine flexible Zwischenlagerung an beliebigen Plätzen, in ruhigeren Phasen werden die Rollcontainer gezielt neu verteilt. Durch diese datenbasierte Steuerung entsteht zugleich eine hohe Transparenz über Bestände und Haltbarkeiten. Das Leitsystem liefert in Echtzeit Informationen an angrenzende Systeme, sodass auch Rückverfolgung und Qualitätsmanagement unterstützt werden. Für die Lebensmittelindustrie ist dieser Aspekt ein entscheidender Mehrwert.
Materialfluss-Simulation als Generalprobe im Digitalen Zwilling
Technisch gesehen blieb die Schnittstelle zwischen dem bisherigen Warenwirtschaftssystem und dem FTS-Leitsystem unverändert, lediglich die Hostserver wurden getauscht. Arla setzte im Vorfeld einen eigenen Simulationsserver auf, über den mehrere Tage hinweg intensive Testreihen der Transportprozesse durchgeführt wurden. Grenzfälle wurden identifiziert, bewertet und in die Prozesslogik eingepflegt.
„In Simulationen lassen sich viele Grenzfälle prüfen, aber etwa zehn Prozent aller Besonderheiten erkennt man erst im Livebetrieb. Deshalb haben wir das System vor Ort eng begleitet und sukzessive weiter optimiert“, erinnert sich Julian Schwarzat. Da die Molkerei im 24/7-Betrieb läuft, war für die tatsächliche Migration lediglich ein zweistündiges Zeitfenster verfügbar. Trotz dieser engen Rahmenbedingungen konnte die Umstellung ohne Produktionsstopp erfolgen. Der digitale Zwilling dient heute nicht nur zur Absicherung von Updates, sondern auch als Planungsinstrument für künftige Erweiterungen. Neue Layoutvarianten oder zusätzliche Fahrzeugflotten lassen sich virtuell erproben, bevor physische Investitionen erfolgen. Damit wird das Leitsystem zu einem Werkzeug, das kontinuierliche Verbesserung unterstützt.
Betrieb und Ausfallsicherheit
Das FTS arbeitet unter klimatisch anspruchsvollen Bedingungen: Bei Temperaturen von drei bis fünf Grad bildet sich regelmäßig feuchte Glätte auf dem Boden. Diese Bedingungen stellen die Fahrzeuge vor Herausforderungen: An manchen Stellen verlieren sie Traktion und gehen in Störung. Um dennoch einen sicheren Betrieb zu gewährleisten, können die Mitarbeitenden Zonen im Layout definieren, Geschwindigkeiten herabsetzen oder Bereiche während Reinigungen sperren. Insgesamt betreuen rund sieben Personen die Anlage im Schichtbetrieb rund um die Uhr. Während geplanter ERP-Downtimes wird das Verhalten der Anlage bei Strom- oder Serverausfällen erprobt und getestet, wie Rückmeldungen an das Lagerverwaltungssystem verarbeitet werden und wie manuelle Aufträge in der Übergangszeit eingesteuert werden müssen. In diesen Szenarien zeigt sich, dass die Milchlogistik eine absolute Priorität hat: Der Roboterarm, der die Rollcontainer aus der Fördertechnik entnimmt, kann nur vier Einheiten puffern. Deshalb muss das FTS auch bei Systemausfällen sicherstellen, dass die Kühlkette nicht unterbrochen wird.
Intelligente Verkehrsführung macht den Unterschied
Die Umstellung führte zu einer nachweislichen Steigerung der Transportleistung um rund 25 Prozent. Diese Optimierung resultiert aus einer deutlich verbesserten Verkehrsführung. Zuvor kam es regelmäßig zu Engpässen, weil Fahrzeuge gleichzeitig dieselben Gassen ansteuerten. Durch die intelligente Verteilung der Flotte konnte die Blocklagerfläche effizienter genutzt werden. Besonders bei einer Auslastung von über 90 Prozent ist die präzise Steuerung entscheidend, um Staus zu vermeiden und dennoch sortenreine Gassen sicherzustellen. Dank Lithium-Ionen-Akkus bleibt die Ladeplanung flexibel: In Spitzenzeiten sind nahezu alle Fahrzeuge einsatzbereit, während in ruhigeren Phasen mehrere Roboter parallel nachladen können. Bereits fünf bis sieben Minuten Ladezeit reichen für den Weiterbetrieb, nach 15 Minuten sind die Batterien vollständig geladen. Auch hier zeigt sich die Bedeutung einer softwaregestützten Gesamtstrategie. Ladezyklen, Verkehrswege und Prioritäten sind eng miteinander verzahnt. Auf diese Weise wird nicht nur die Produktivität gesteigert, sondern auch die Energieeffizienz verbessert – ein Punkt, der im Hinblick auf Nachhaltigkeit und CO₂-Bilanz zunehmend Gewicht hat.
Ein FTS-Projekt mit Signalwirkung
Mit 90 Fahrzeugen zählt die Anlage in Aylesbury zu den größten FTS-Installationen weltweit. Erweiterungen wären technisch denkbar, doch die Erfahrungen bei Arla zeigen: Die eigentliche Leistungsfähigkeit eines FTS liegt nicht in der reinen Anzahl der Fahrzeuge, sondern in der Qualität des Leitsystems. „Hardware bewegt Lasten, aber die Intelligenz der Software entscheidet über die Effizienz des Gesamtsystems“, bringt es Ronald Kretschmer auf den Punkt. Die langjährige Zusammenarbeit von Arla und ek robotics gilt heute als Musterbeispiel für eine partnerschaftliche Weiterentwicklung von Logistikprozessen. Regelmäßige Tests, enge Abstimmungen zwischen IT, Produktion und Logistikleitung sowie die Fähigkeit, Konfigurationen auch im laufenden Betrieb anzupassen, haben ein System geschaffen, das zum integralen Bestandteil der Molkerei geworden ist.
Für die Branche insgesamt ist das Projekt ein Beleg dafür, dass intralogistische Software die Rolle klassischer ERP-Systeme zunehmend ergänzt oder sogar ablöst. Viele Unternehmen stehen vor vergleichbaren Herausforderungen, und die in Aylesbury erzielten Ergebnisse zeigen, welches Potenzial in einer konsequent softwaregetriebenen Intralogistik steckt. Für die Zukunft prüft Arla, weitere Standorte mit dieser Technologie auszustatten. Klar ist bereits jetzt: Der Wechsel von einer ERP-gesteuerten zu einer Leitsystem-basierten Intralogistik hat nicht nur die Effizienz gesteigert, sondern auch die Grundlage für zukünftige Automatisierungsschritte gelegt.